Felix Schmidt (Hrsg.): Der Eremit
© 2006 Reichl-Verlag, St. Goar
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Leseprobe
Ein deutscher Mystiker stellt sich der Öffentlichkeit vor
(aus der Einführung)
Es war Anfangs Mai 1940, als dem Schriftleiter in seiner Eigenschaft als „Plauderonkel“ der in einem deutschen Verlage im Mittelwesten erscheinenden deutschsprachigen Zeitung eine Zuschrift zuging, die unterzeichnet war: „Der Eremit aus dem Felsengebirge, Montana“, und folgendermaßen lautete:
„Ich bin zweifelsohne der älteste Leser dieser Zeitung, nämlich über 94 Jahre alt. Ich wohne hier im südwestlichen Teile von Montana auf einer kleinen Farm, die fast ganz abgelegen ist von jedem Verkehr. Tatsächlich bekomme ich beinahe das ganze Jahr hindurch keinen Fremden zu sehen, außer ich fahre mit meinem alten Ford nach der nächsten kleinen Stadt, um mir die wenige Post, die ich bekomme, abzuholen. Im Winter kann das wegen Schnee manchmal wochenlang nicht geschehen. Dann mache ich mich manchmal mit meinem treuen ‚Philos‘, meinem großen russischen Windhund, zusammen zu Fuß nach dem Städtchen auf. Ich decke mich gewöhnlich im Herbst mit Konserven ein für die langen Wintermonate. Da ich mir also immer nur von Zeit zu Zeit meine Post abhole, so bekomme ich die Zeitungen dann von mehreren Wochen auf einmal und vertiefe mich – während der Wintermonate – oft Tage und Nächte ins Lesen. Ich bin ganz allein, und wenn ich mal sterbe, so mag es sein, dass mich überhaupt niemand vermisst und ich hier vermodere, bis zufällig einmal jemand vorbeikommt. Es führt nämlich kaum ein rechter Weg zu meinem Platz hin. Wenn ich im Frühjahr, Sommer und Herbst meinen alten Ford fahre, so fahre ich von der Hauptstraße einfach an einer bestimmten Stelle ab, und die Radspuren sind gewöhnlich bald verweht. Ob ich noch immer frisch bin? Ja, das bin ich. Die wenigen Menschen, die mich im nächsten Städtchen kennen, wenn ich dort meine Einkäufe mache, halten mich für höchstens 60 Jahre. Ich gelte für die Bewohner als ein Wissenschaftler, der geologische Studien betreibt. Und das ist gut so. Ich war den größten Teil meines Lebens allein und will allein bleiben bis zu meinem Lebensende, nur mit meinem Philos um mich.
Nun werden die Leser gern wissen wollen, was ich für ein sonderbarer Kauz bin. Mit jungen Jahren verließ ich Deutschland, nachdem ich den deutsch-französischen Krieg als junger Garde-Offizier mitgemacht hatte und verwundet worden war. Die Verwundung heilte nur schwer wieder aus. Ich hatte Geld, da ich der einzige Sohn meiner Eltern war, die bald nach Kriegsschluss schnell hintereinander gestorben waren. Ich verließ Deutschland eigentlich nur, um irgendwo Heilung für meine Verwundung zu finden. Ich reiste durch Nordafrika und kam nach Indien, wo ich bis nach dem herrlichen Kaschmir hinaufgelangte. Dort machte ich die Bekanntschaft eines indischen Philosophen und ‚Heiligen‘, der mich viel lehrte, unter anderem, wie ich meine Verwundung durch die in mir innewohnende Kraft selbst heilen könnte. Er lehrte mich aber noch viel mehr. Er lehrte mich auch in die Zukunft und Vergangenheit zu schauen. Über Vieles darf ich nicht schreiben; manches kann ich bekannt geben. Da in letzter Zeit oftmals sogenannte Prophezeiungen hier veröffentlicht wurden, dachte ich, manches aus meiner eigenen Erfahrung mag die Leser interessieren. Ich will gern gelegentlich mal darüber schreiben, stelle aber eine Bedingung an den ‚Plauderonkel‘, und die lautet, dass unter keinen Umständen mein Name und meine Adresse bekanntgegeben werden dürfen. Zum ‚Plauderonkel‘ habe ich das Vertrauen, zumal ich aus seinen ‚Gedanken und Betrachtungen‘ ersehe, dass er ein tiefer Denker, Philosoph und vor allem sehr religiös veranlagt zu sein scheint.
Soviel diesmal. Sobald ich die Versicherung des ‚Plauderonkels‘ habe, dass er unter keinen Umständen meine Adresse fortgibt, schreibe ich mehr.“
Der Inhalt dieser Zuschrift fesselte den Schriftleiter in außergewöhnlichem Maße, einmal von dem Standpunkt eines Zeitungsmannes aus, der sich freut, interessanten Lesestoff für seine Leser erhalten zu können, und ferner weil der Schriftleiter selbst sich seit Jahrzehnten mit philosophischen Problemen, wie sie der Schreiber andeutete, befasst hatte. Er antwortete deswegen dem Einsender, er dürfe versichert sein, dass niemand seinen Namen und seine Adresse erfahren würde. Das war absolut keine Vergünstigung, die gewährt wurde. Solche Zusicherungen wurden jedem Einsender an die „Plauderecke“ gegeben, der darum bat. Um so überraschender war es später für den Schriftleiter, dass die Zusicherung, die er auf Wunsch jederzeit jedem andern Leser gegeben hatte, Anlass zu allerhand Verdächtigungen gab, die jeder Grundlage entbehrten.
Der „Plauderonkel“ gab also dem „Eremiten“ die gewünschte Zusicherung, dass ihm dasselbe Recht zustehe wie jedem anderen Einsender, nämlich ungenannt zu bleiben. Darauf ging folgende weitere Zuschrift vom „Eremiten“ ein:
„Ich habe die Aufforderung des ‚Plauderonkels‘ gelesen, etwas über meine Erlebnisse in Kaschmir zu berichten. Außerdem habe ich auch seine Zusicherung, dass er niemandem meine Adresse mitteilen werde. Ich glaube und vertraue dem ‚Plauderonkel‘, der mich persönlich nicht kennt, ich ihn aber, da ich ihn schon manchmal im Traume besuchte und ihm Landschaften und ideale Zustände zeigte, die er beim Aufwachen allerdings nur für Träume gehalten hat, die aber in Wirklichkeit mehr als das waren. Manchmal schien der ‚Plauderonkel‘ zu ahnen, dass er irgendwie in Verbindung mit unsichtbaren Kräften stände, doch da er keine Gewissheit hatte, so dachte er nicht mehr weiter darüber nach. Nun, ich kann ihm sagen, dass er in gewissen Kreisen bei philosophischen Menschen, über die ich noch schreiben werde, nicht unbekannt ist, und dass er in diesen Kreisen als ein sehr vorgeschrittener Mensch angesehen wird, der vor allem seine Lebenspflichten stets ohne Murren aufnimmt, ganz gleich, was ihm das Schicksal gerade zu tun aufträgt. Das sind Eigenschaften, die wichtig in der Entwicklung sind. Menschen, die nur das Sensationelle suchen und gleich wieder, sobald das Sensationelle anscheinend nicht befriedigt wird, sich irgendetwas anderem zuwenden und so in ihrem Leben zwischen unzähligen Theorien und Anschauungen immer hin- und herflattern, können sich nicht harmonisch entwickeln, sondern hindern sich nur selbst durch ihre Unstabilität. Ganz etwas anderes ist es aber, wenn man sich ändert durch eine innere Wandlung, ohne dass einem irgend etwas Sensationelles anlockt. Das sollte jeder tun. Kein Mensch soll verkrusten, doch er soll bei seinem Suchen nicht sensationslüstern sein und nicht immer nur nach seinem eigenen ‚persönlichen Vorteil‘ jagen.
Nun, nachdem ich die gewünschte Zusicherung habe und ich weiß, der ‚Plauderonkel‘ würde sich eher umbringen lassen, ehe er meine Adresse irgend jemandem mitteilte, will ich in einer Reihe von Artikeln durch die ‚Plauderecke‘ meine seltsamen Lebensschicksale mitteilen, soweit ich das kann und darf, denn ich stehe gleichfalls unter Verpflichtung, da manches, was ich weiß und gelernt habe, gefährlich wäre, der Öffentlichkeit preiszugeben. Ich fühle, dass ich in nicht allzu langer Zeit das irdische Dasein gegen ein viel schöneres vertauschen werde, was wir Menschen als ‚Sterben‘ zu bezeichnen pflegen. In Wirklichkeit ist ‚Sterben‘ die wahre Geburt der Seele in ihrer eigenen Heimat. Diese ‚seelische Geburt‘, ‚Sterben‘ genannt, vollziehen wir bewusst, im Gegensatz zur irdischen Geburt, die sich unbewusst für uns abspielt. Darum ist das ‚Sterben‘ für den Menschen scheinbar auch schwerer als das irdische Geborenwerden. Ich schreibe ‚scheinbar‘, und das stimmt. Denn sobald der Mensch erst einmal weiß, dass ‚Sterben‘ eigentlich seelisches und geistiges Erwachen ist, fällt die Todesfurcht vollständig fort. Ich wünschte, ich könnte allen meinen Landsleuten wenigstens die Todesfurcht festnehmen. Sie ist unnötig. Doch das werden die Leser erst einsehen, wenn sie meine Mitteilungen gelesen haben werden. Ich werde von jetzt ab immer Fortsetzungen einschicken, werde aber damit aufhören, sobald irgendeine Beschwerde von jemandem bei mir persönlich einläuft, was mir beweisen würde, dass meine Adresse doch bekannt gegeben wurde. Nur der ‚Plauderonkel‘ darf an mich schreiben, und ich bitte ihn, meine Adresse nicht irgendwie aufzuschreiben, sondern auswendig zu lernen. Ich möchte meinen Landsleuten alles das mitteilen, was ich erlebt habe, möchte aber nicht mit persönlichen Briefen belästigt werden.“