Leseprobe
Der werfe den ersten Stein ...
(aus dem 9. Kapitel)
© 2021 Thomas Eich-Verlag, Werlenbach
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Am nächsten Tage gellten Jammerrufe durch die Gassen Jerusalems. Im Tempel saß Jesus wieder auf dem Schemel, und er horchte nun auf den Wehruf, der schrill von den Lippen einer gequälten Frau bis in die Hallen des Tempels erklang. Die Jünger stürzten hinaus, das Unheil zu schauen.
Da wälzt sich ihnen eine Schar vornehmer Pharisäer entgegen, hinter ihr ein Haufe Volks. Sie führen ein schönes, gutgewandetes Weib mit sich, zerren es an den Gelenken, und viele haben Steine in den Händen, die sie drohend gegen das Weib erheben, um nach dem Gesetz die zu töten, die die Ehe gebrochen.
Da führt einer die in den Knien schlotternde Frau vor den Meister hin, wo sie laut aufschreiend zusammenbricht. Nun weiß sie, dieser wird sie verdammen, und das heißt für ihre Bedränger: Tötet sie!
„Wir haben sie ertappt im Bett des Buhlen, während ihr Mann auf der Reise war“, schreit der Ankläger, ein Pharisäer mit drohenden Blicken, in denen die Schadenfreude mitschillert. Nun wird sich ja weisen, wie dieser neue Lehrmeister das Gesetz handhabt. Er wird und muss sie zu den Toten werfen, sie, die jetzt noch ihre Sünde lebendig trägt.
Und ein anderer wirft seinen Geifer vor Jesum hin. „Moses hat uns geboten, eine solche zu steinigen. Wie hältst du es?“
Der Nazarener blickt wie ungerührt vor sich hin, bückt sich dann nieder und schreibt mit dem Finger Zeichen in den Sand, der vor ihm glitzert. Es sind Augenblicke für das Weib, die wie gewittergeladene Wolken über ihr Leben hinschweben. Ihre Augen starren irr und gläsern nach dem, der ihr Richter sein soll, und ihr Leib erzittert unter der Drangsal der Stunde. Die Leute um sie herum halten den Atem an, und die Fäuste verkrampfen sich in die Steine.
Philippus nähert sich dem Meister. „Herr, diese warten, dass du ihnen Antwort gebest. Sie wollen einen Handel mit dir haben. Willst du die Ketten dieser Sünderin lösen?“ Und seine Blicke verneinen schon die eigene Frage.
Da erhebt sich der Herr und blickt die Leute mit seinen von heißem Erbarmen durchleuchteten Augen an. Und wie ein Hagelschlag prasselt das vergebende und zugleich dräuende Wort auf die Ankläger nieder:
„Wer unter euch frei von Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“
Die Pharisäer, so schnell zur Verdammung bereit, ducken sich unter der Wucht der Worte zusammen. Der Ruf des Erbarmens rüttelt sie aus ihrer Starrheit auf.. Die klagende Meute gerät in Bewegung, die draufgängerischen Bösewichte, die mit dem Weib ihren fürchterlichen Spaß haben wollten, lassen die Steine fallen, zucken die Achseln, brummen etwas in die Bärte und suchen verlegen nach einem Ausgang.
Das Weib spürt plötzlich Raum um sich. Die Pharisäer überlassen sie ihrem Schicksal! Ist es möglich, dass dieses unerwartete Wort des Mitleids an ihre Herzen gerührt hat? Haben sich Bronnen in ihnen geöffnet, die neue Quellen der Liebe und des Erbarmens ans Licht lassen? Sie sieht, Wie alle um Jesum zurückweichen, als ertrügen selbst die Jünger nicht die Wucht des augenblicklichen Geschehens.
Jesus sieht dem Weib in die entsetzten Augen. „Wo sind die Ankläger hingekommen? Hat dich niemand verdammt?“
„Niemand, Herr!“, stammelt die Ehebrecherin wie im Traum.
„So verdamme ich dich auch nicht. Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“
Wie reinigende Bethesdaflut schlägt das Wort über ihrer Seele zusammen. So bin auch ich, die von den Menschen Verworfene, in das wahre Gesetz Gottes gestellt?, donnert es in ihr. Sie fühlt, dass ihre Ehe schon gebrochen war, als sie geschlossen worden war, denn sie war ohne Liebe. Und wer ohne Liebe freit, bricht schon die Ehe. Das war ihre erste Versündigung, der die andern naturnotwendig folgen mussten. Durch seine sittliche Erkenntnis stellte sie dieser gottgebundene Mensch aus der Finsternis ihrer Seele in das Licht der Gnade. Das überwältigt sie vollends. Und sie wirft sich nieder und umfängt die Füße des, der sie kraft eines innerlichen Gebotes von der Schmach erlöst. Wer ist dieser Mensch? Der mit einem einzigen Wort ihre Ankläger in den Staub wirft? Ist er wirklich der, der vor Abraham war und der da ist und sein wird, der Unvorstellbare, Unfassbare, um dessen Händeberührung sie jetzt mit verweinten Augen bittet? Sie hat etwas von einem gotterfüllten Menschensohn gehört, von einem fleischgewordenen Wort, von einem durch ihn geoffenbarten Gotteswillen, aber sie weiß mit diesen geheimnisvollen Begriffen nichts anzufangen, nur ihr Gefühl bricht in einem Tränenstrom der Erlösung aus ihr hervor. Und ihre Hände lassen seine Hand nicht los, die sie mit Küssen bedeckt. Sie weiß nun, dass die Wandlung ihrer Seele das herrlichste Opfer auf dem Altar Gottes sein muss. Mit nach innen gesenkten Blicken geht sie von ihm, von den Neugieraugen der wieder herankommenden Menschen verfolgt.
Die Heilstat hat selbst seine Jünger befremdet. Und ein paar Rabbiner nähern sich scheu mit gleichgearteten Seelen, dürre, abgezehrte Asketenkörper, lauernde Gesichter, hinter denen verstohlen der Hass brütet.
So bildet sich allmählich wieder ein Wall um ihn.